Rohrpost und Radieschen: Skurrile Einblicke in den Wiener Zentralfriedhof

© Judith Kantner

Kein Ort verkörpert die Wiener Morbidität so treffend wie der Zentralfriedhof. Selbst zu seinem 150. Jubiläum sind seine Geschichten noch längst nicht zu Grabe getragen. Stattdessen erweist sich die Ruhestätte von Millionen als lebendiger Schauplatz für ungewöhnliche Ideen und innovative Projekte – von Urban Gardening bis hin zur Rohrpost für Särge.

von Alexander Brandl und Judith Kantner

Im Jahr 1874 öffnete der Zentralfriedhof erstmals seine Tore und galt damals als der größte Friedhof Europas. Heute rangiert er flächenmäßig hinter dem Friedhof Ohlsdorf in Hamburg und dem Brookwood Cemetery in der Nähe von London auf Platz drei. Dennoch bleibt er mit etwa drei Millionen Bestatteten, verteilt auf rund 330.000 Grabstellen, der „meistbesuchte“ Friedhof Europas.

Infobox
1874 eröffnet
Fläche: 2,5 km²
330.000 Gräber
ca. 3 Mio. begrabene Menschen
Täglich zwischen 20-25 Beerdigungen

Knochen, Krypta, Kult

Zu seiner Eröffnung stieß der Zentralfriedhof jedoch auf wenig Zustimmung in der Bevölkerung. Um seine Akzeptanz zu erhöhen und ihn gesellschaftlich aufzuwerten, wurden Ehrengräber prominenter Persönlichkeiten nach Simmering verlegt. So fanden die sterblichen Überreste von Ludwig van Beethoven und Franz Schubert ihren Weg in den 11. Bezirk. Inzwischen feiert der Zentralfriedhof sein 150-jähriges Bestehen und gilt als Wahrzeichen Wiens. Dank seiner prominenten Bewohner*innen, der Jugendstil-Architektur sowie seiner Größe hat der Wiener Zentralfriedhof längst Kultstatus erreicht.

Vor den Friedhofstoren gibt es eine große Auswahl an Blumen und Grabschmuck © Judith Kantner

Per (Rohr)Post ins Jenseits

Aufgrund seiner großen Entfernung zur Wiener Innenstadt wurde bereits vor der Eröffnung des Friedhofs über die Problematik des Leichentransports diskutiert. Eine Ausgabe des Wiener Extrablatts im Jahr 1874 illustrierte die enormen Schwierigkeiten des Leichentransports über die winterlich-verschneite Simmeringer Heide. Um diesem Problem entgegenzuwirken, schlugen im selben Jahr der Architekt Josef Hudetz und der Ingenieur Franz von Felbinger eine ungewöhnliche Lösung für das Problem vor: Eine pneumatische Rohrpost für Leichentransporte. Mit visionärem Eifer griffen die Planer auf die damals neue pneumatische Technik zurück, die mithilfe von Druck die letzte Reise erleichtern sollte.

Geplant war eine Begräbnishalle am Karlsplatz mit separaten Räumen für verschiedene Konfessionen, in denen die Särge nach den Zeremonien hydraulisch in den Untergrund gesenkt werden sollten. Dort hätten sie mit Druckluft in einer speziell entwickelten Druckleitung direkt zum Zentralfriedhof befördert werden können. Diese letzte Fahrt hätte bei einer Geschwindigkeit von bis zu 27 km/h gerade einmal zehn Minuten gedauert. Am Ziel wären die Särge den entsprechenden Gräbern zugeordnet worden – effizient und hygienisch.

Technisierte Leichentransporte als kontroverses Thema

Obwohl die Wiener Stadtverwaltung das Projekt nach hitzigen Debatten durchaus ernsthaft prüfte, scheiterte es letztlich an finanziellen und politischen Hürden. Der Kulturwissenschaftler Florian Bettel weist im Podcast „Stimmen der Kulturwissenschaften“ hierbei auf den Börsenkrach von 1873 hin: „Es verwundert kaum, dass die von der Finanzkrise 1873 schwer getroffene Gemeindeverwaltung vor einer weiteren Ausgabe in der Höhe von mindestens einer Millionen Gulden zurückschreckt.“ Die Idee des technisierten Leichentransports stieß auf viel Unmut. Auch wenn die Idee der Rohrpost und die damit kaschierte Art des Leichenkondukts speziell bei den Anrainer*innen im Simmering populär war, weist Bettel auf den Einfluss der Kirche hin. Diese fürchtete einen Rückgang von traditionellen Riten und lehnte den Transport mittels der Rohrpost gänzlich ab.

Wiedergeburt als Zucchini?

Frisch geerntetes Bio-Gemüse, das auf dem Areal des Zentralfriedhofs wächst? So lautet das ungewöhnliche Urban-Gardening-Konzept, welches zwischen den Friedhöfen Wien und der Firma Ackerhelden betrieben wird. Mit diesem Projekt handelt es sich um eine nachhaltige Initiative, die die Wiederbegrünung innerhalb der Stadt fördern möchte. Ungenutzte Grünflächen können von Profis bis zu Hobbygärtner*innen angemietet werden, um darauf ihr Obst oder Gemüse anzubauen.

Ackerheldin Rita Himmel kurz vor der Einwinterung des Gartens © Judith Kantner

Ackerheldin Rita Himmel unterstützt bei der Pflege und Betreuung der Beete am Wiener Zentralfriedhof. Für sie bietet das Projekt weit mehr als nur Anbaufläche für Obst und Gemüse: „Wir sind eine Organisation, die sich sehr stark für die Renaturierung, für Biodiversität, für dieses Verständnis von Grünraum im Urbanen einsetzt und dafür, dass Menschen wieder auch zueinander finden.“ Neben dem ökologischen Aspekt besitzt das Arbeiten im Grünen auch eine soziale Komponente.

„Und jetzt gehe ich nicht nur das Grab besuchen und betreuen, sondern gehe auch noch in den Garten. Und das hat noch eine ganz positive Konnotation“ – Rita Himmel

Häufig wird das Urban-Gardening als generationenübergreifendes Familienhobby betrieben. „Ganz oft gärtnert die Mama mit der Tochter oder ein Ehepaar oder Großeltern mit ihren Enkelkindern“, berichtet Himmel. Die Personen, die dieses Angebot nutzen, kommen mit ganz unterschiedlichen Motiven zum Zentralfriedhof: Manche suchen eine meditative Ruhepause, andere nutzen den Garten zur Trauerbewältigung oder als Möglichkeit für sozialen Austausch. Die Verbindung von Gärtnern und Friedhof verleiht dem Gang zum Grab eine neue, positive Dimension. „Und jetzt gehe ich nicht nur das Grab besuchen und betreuen, sondern gehe auch noch in den Garten. Und das hat noch eine ganz positive Konnotation“, so Himmel.

Die Gartenparzellen befinden sich nur wenige Schritte vom zweiten Tor des Wiener Zentralfriedhofs entfernt und stehen in zwei verschiedenen Größen zur Verfügung: Die kleinere Parzelle umfasst 24 m2, während die größere Variante 40 m2 Anbaufläche bietet. Von Anfang Mai bis Ende Oktober können diese Flächen bewirtschaftet werden. Die einzige Voraussetzung für die Nutzung der Parzellen ist der Besitz eines Grabes auf einem der 46 Friedhöfe Wiens. Sorgen um den Verzehr des angebauten Obstes und Gemüses sind unbegründet: Alles, was hier wächst, ist bio-zertifiziert – und garantiert ohne morbiden Beigeschmack. „Wir haben hier einen sehr guten Boden und alle sagen, da ist ja auch gut gedüngt,“ erzählt Rita Himmel grinsend. „Aber hier lag noch nie jemand“, erklärt die Ackerheldin und deutet auf eine bepflanzte Gartenparzelle.

Am Wiener Zentralfriedhof können die Radieschen sprichwörtlich von oben angeschaut werden. Das kreative Projekt der Ackerhelden rückt Nachhaltigkeit und Gemeinschaft in den Mittelpunkt und schafft es dadurch auch, dem Wiener Zentralfriedhof neues Leben einzuhauchen.


Die Autor:innen Alexander Brandl und Judith Kantner
© Magdalena Hronek