
Fangruppen sind ein Ort des Wohlfühlens und der Gemeinschaft. Vor allem der Fußball bringt Millionen von Menschen zusammen. Doch für manche endet die Leidenschaft zum Verein in Gewaltexzessen. Im Wiener Derby** zwischen Rapid Wien und Austria Wien kam es jüngst zu Ausschreitungen – ein Phänomen, das weit über das Spielfeld hinausgeht. Was bewegt Menschen dazu, in die Extremen des Fantums zu gehen? Was bringt Fans dazu, für ihren Lieblingsverein so weit zu gehen?
Verfasst von Emilija Ilić und Karoline Köller
Luis M. war als Teenager fixer Bestandteil des Fan-Sektors von Austria Salzburg. Der Club war für ihn eine alle Ebenen des Privatlebens einnehmende Gemeinschaft. Dort waren seine Freund:innen, mit denen er zusammen zu Spielen des eigenen Vereins pilgerte, mit denen er in der Kurve* gemeinsam die Fangesänge brüllte. Mit den Bezugspersonen im Fanclub verbrachte er auch außerhalb des Vereins seine Freizeit.
„Menschen mit erhöhter Gewaltbereitschaft gibt es überall“
Gewaltsame Ausschreitungen sind für ihn eine Ausnahme. „Grundsätzlich geht es in jedem Fanclub um Fußball, aber es gibt Menschen, die einfach einen Output für ihre Aggressionen suchen“, so erklärt Luis sich die Gewaltbereitschaft mancher Fans. Fanclubs, die für ihre Gewaltbereitschaft bekannt sind, würden oft als eines von vielen Auffangbecken für solche Menschen dienen. Eine direkte Verbindung zum Fußball selbst lasse sich dabei nicht herstellen: „Menschen mit erhöhter Gewaltbereitschaft gibt es überall“, meint er.
Luis zieht einen Vergleich zu Demonstrationen: „Es gibt eben Spiele, wie bei manchen Demos mit Gegendemo, da ist klar, es wird krachen. So ist das bei gewissen Fußballspielen auch.“ Auch seien die Dynamiken ähnlich: Nicht immer stünden alle in der Kurve wirklich hinter dem Text der Fangesänge, die sie mitrufen. „Im Fußballstadion ist halt auch dein Ziel, deine Mannschaft zu unterstützen, und dazu schreist du halt auch den Text mit.“ Da Demonstrationen eine Form des politischen Protests sind, bleibt die Frage offen, wie Fußball es schafft, eine ähnliche Leidenschaft hervorzurufen.
Fußballvereine finanzieren sich teilweise über ihre Mitglieder, die im Gegenzug Rabatte, Vorkaufsrecht auf Tickets und ein Stimmrecht in der Hauptversammlung erhalten. So nehmen sie auf einer strukturellen Ebene Einfluss auf ihren Verein. Auch das sieht Luis als einen Faktor, der die Bindung an den eigenen Verein stärke.
Wie wird eine Gemeinschaft extrem?
Der Experte und Politologe Georg Spitaler sieht gewaltbereite Fangruppierungen als Extremform der Identifizierung mit dem eigenen Verein. „Die starke emotionale Bindung an Vereine und die Identifikation mit deren Erfolgen und Misserfolgen schaffen eine Gemeinschaft, die sowohl Halt als auch Leidenschaft bietet“, erklärt Spitaler.

Extreme Formen der Fankultur entwickeln sich oft in Übergangsphasen, insbesondere in der Jugend, wo Gruppenzugehörigkeit und das Austesten von Grenzen eine wichtige Rolle spielen, so der Experte. Die Rituale in Stadien – wie beispielsweise Gesänge, Pyrotechnik und visuelle Inszenierungen – bieten Fans einen Raum, in dem sie Gemeinschaft erleben. Diese fehlt vielen möglicherweise in anderen Lebensbereichen. Oft wird der Fußball-Kontext auch als Ventil für persönliche und soziale Spannungen genutzt.
Auch Männlichkeitsbilder und Gewaltbereitschaft werden im Stadion reproduziert. Grund dafür kann das Ausfechten von Hierarchien oder Ausdruck von territorialen Konflikten sein. Gleichzeitig erklärt der Politologe, dass Fußballfans nicht nur Symbole von Konflikt und Polarisierung sind, sondern oft auch Vorreiter für gesellschaftlichen Wandel. Nicht selten kommt es vor, dass Themen wie Rassismus oder Homophobie im Fußball aufgearbeitet werden.
Ausschreitungen in Wien
Eskalationen und Gewaltexzesse machen im Fußball immer wieder Schlagzeilen. So überraschen die jüngsten Tumulte im Wiener Derby nicht: Eine von der Tageszeitung Der Standard veröffentlichte Chronologie zählt einundzwanzig Ausschreitungen und Spielabbrüche seit 1923. Nicht nur das Match, auch die Exzesse sind hier Teil einer Tradition geworden. Was bringt Fans dazu, für ihren Lieblingsverein so weit zu gehen?
Wie viele gewaltbereite Fußballfans durch Österreichs Stadien ziehen, ist unbekannt. Aktuelle Studien dazu fehlen. In einem ORF-Steiermark Interview aus dem Jahr 2023, erklärt Sportkommunikationswissenschaftler Jörg-Uwe Nieland von der Universität Klagenfurt, dass die Gewaltbereitschaft bei Fußballspielen tendenziell abnimmt. Davon ausgenommen sind jedoch Spiele, die eine starke lokale Rivalität aufweisen, wie beispielsweise Derbys zwischen Rapid Wien vs. Austria Wien oder SK Sturm Graz vs. Grazer AK. Die neuesten Gewaltausschreitungen in Wien hinterlassen Spuren: Beim Derby zwischen Rapid und Austria kam es zu schweren Ausschreitungen mit 577 Anzeigen, mindestens 27 verletzten Personen und zehn verletzten Beamten.
Auch in der Regionalliga bleibt Brutalität nicht aus: Wenige Tage nach den Eskalationen beim Wiener Derby mussten Polizist:innen bei einem Spiel in Simmering erneut eingreifen. Vor Ort kam es nach dem Match zwischen Mauerwerk und dem Wiener Sport-Club zu verbalen und körperlichen Angriffen.
Revierkämpfe außerhalb des Stadions
Nicht nur Offensiven von extremen Fans bei oder nach Spielen sind im Fußball eine Regelmäßigkeit. Zwischen verfeindeten Fanclubs kommt es zu organisierten Kämpfen, die teilweise in speziell dafür eingerichteten Telegram-Gruppen organisiert werden. Auf Instagram werden die Ergebnisse der Kämpfe inklusive anonymisierter Fotos der Sieger veröffentlicht.
Laut Berichten nahestehender Personen von extremen Fußballfans gibt es in einigen Fanclubs für solche Revierkämpfe ein eigenes Kampftraining, um die Mitglieder für physische Auseinandersetzungen vorzubereiten. Die Vereine wissen teilweise von den Vorgängen und nehmen die Strafen in Kauf, die sie zahlen müssen. Unter den extremen Fans herrscht die unausgesprochene Regel, dass eine Herausforderung nicht abgelehnt und nicht ausgewichen werden darf.
Insbesondere die „Ultras“ definieren ihre Identität durch eine Leidenschaft für ihren Verein, die weit über das Stadion hinausgeht. Im Gegensatz dazu fallen die „Hooligans“ zusätzlich durch physische Gewalt und Provokationen auf.
Spielfeld gesellschaftlicher Veränderung
Im deutschen Fußball ist die Fanarbeit ein fixer Bestandteil der Szene, wie zum Beispiel die Kompetenzgruppe Fankulturen und sportbezogene Soziale Arbeit (KoFaS). Fanarbeit im Fußball bedeutet, Fans zu unterstützen, eine positive Fankultur zu fördern und als Vermittler zwischen unterschiedlichen Beteiligten zu wirken. In Österreich hat sich Fanarbeit noch nicht in einem vergleichbaren Maße in der Fankultur etabliert. Wie kann man das Potenzial engen Zusammenhalts beim Fußball nutzen, um gemeinsam gesellschaftliche Probleme wie Rassismus und Sexismus aufzuarbeiten, statt zu reproduzieren? Projekte wie Fußballfans gegen Homophobie Österreich versuchen das auch in Österreich vorzuzeigen.

Patriarchale Strukturen erziehen uns dazu, körperliche Überlegenheit mit Stärke zu verbinden, diese wird oft mit Männlichkeit gleichgesetzt. Das Stadion als ein Ort, an dem viele Menschen aufeinandertreffen, bildet diese Strukturen lediglich auch ab. Die Herausforderung bleibt, das kraftvolle Gemeinschaftsgefühl der Fußballfans zu erhalten. Gleichzeitig muss verhindert werden, dass Gewalt die Oberhand gewinnt.
Beitragsbild © Jose David Cortes, via Pexels
INFOBOX
* KURVE = auch Fankurve, bezeichnet den Sektor auf der Tribühne in einem Fußballstadions, in dem die Fans von einem Verein sitzen. Wo die Fankurven in einen Stadion sind, ist unterschiedlich; oft ist sie gegenüber vom Gästesektor oder hinter einem der beiden Tore.
** WIENER DERBY = Derby bezeichnet ein ritualisiertes Match von zwei rivalisierenden Vereinen derselben Sportart in einer Gegend. Beim sogenannten Wiener Derby sind traditionell Spiele des SK Rapid Wien gegen FK Austria Wien gemeint. Die Bezeichnung für das Match gibt es seit 1950.
Unsere Gesprächspartner
Luis M. wohnt mit Anfang zwanzig in Wien und ist hier aus zeitlichen Gründen keinem Fanclub mehr beigetreten. Er kennt sich in der Fußballszene nach wie vor aus. Ohne sich selbst jemals zu den extremen Fans gezählt zu haben, hat er persönlichen Einblick in das Funktionieren von Fankultur. KI-generiertes Foto


Georg Spitaler ist Politologe und Historiker. Er ist Lehrbeauftragter und ehemaliger Post-Doc-Assistent am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien. Er hat zahlreiche Publikationen zu Arbeiter:innengeschichte, politische Theorie und Cultural Studies sowie Fragen des Politischen im Sport veröffentlicht. Foto © Petra Sturm
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Weiterlesen zum Thema
- Hintergrund: Chronologie der Derby Skandale (derSTANDARD)
- Kontra: Fanforscher: „Andere Fans blicken sehr kritisch auf die Derby-Vorfälle“ (Kurier)
- Eine Problematisierung des Verhältnisses von marktkonformen Fußball und nicht-männlichen Personen (Rosa Luxemburg Stiftung)
- Beatrice Frasl: Misogynie wird immer mehr salonfähig (Wiener Zeitung)
Autorinnen

Emilija Ilić (rechts) studiert an der FH Wien der WKW im Master Journalismus & Neue Medien. Sie beschäftigt sich in ihrer Arbeit als Journalistin und Moderatorin mit den Themen Gerechtigkeit und Gesellschaft.
Karoline Köller (links) studiert im selben Studiengang mit Emilija. Auch sie teilt Emilijas Neugier, kulturelle und gesellschaftlichen Phänomene zu erkunden. In ihrer Freizeit macht sie Musik und geht ins Kino.
Foto © Magdalena Hronek