
Ein Artikel von Iwan Kasprzyk und Jonathan Kern
Im medialen Diskurs erscheint er oft als Problemzone – der Wiener Gürtel.
Berichte über nächtliche Gewalt, Polizeieinsätze und Verkehrsbelastung prägen sein Bild. Gleichzeitig ist er ein Ort pulsierenden Nachtlebens, ein Anziehungspunkt für verschiedenste Menschen – von jung bis alt. Periodisch tritt die Diskussion um einen Umbau des Gürtels in die Medien. Doch dies wirft die Frage auf:
Wie lässt sich der Gürtel lebenswerter und sicherer gestalten ohne ihm dabei seinen ungefilterten Charme zu entziehen?
Der Wiener Gürtel verbindet und trennt gleichzeitig – von den bürgerlichen Bezirken wie Neubau (7.) und Josefstadt (8.) bis hin zu Arbeiter- und Migrantenvierteln wie Rudolfsheim-Fünfhaus (15.) oder Ottakring (16.). An den Stationen entlang der U6 erlebt man eine einzigartige Mischung aus Kultur und Schicksalen, es ist ständig was los.
Tiefe Bässe dröhnen über den Asphalt, Autos rasen die Straße entlang, sodass der von Stimmen dominierte Klangteppich immer wieder kurz übertönt wird. Es herrscht nächtlicher Trubel, Bars und Clubs reihen sich aneinander, Dönerbuden und Würstelstände stillen den Heißhunger. Der Gürtel ist geprägt von dunklen Ecken, belebten Gassen und multikulturellem Publikum. Durch seine Rauheit und Authentizität versprüht der Gürtel eine ganz besondere Art von Charme. Besucher:innen schätzen ihn dafür, während andere ihn aus denselben Gründen meiden.
Zwischen Kriminalität und Lärmbelastung
Abhängig von Wohnort, Wertesystem und sozialer Schicht wird der Gürtel verschieden wahrgenommen. Wo er für die Studierenden, die wohnhaft in den inneren Bezirken sind, als Fortgehmeile zur nächtlichen Ekstase dient, scheinen sich Anwohner:innen zunehmend mit der Umgebung zu entfremden. Die Kriminalität entlang des Gürtels stieg im Jahr 2024 im Vergleich zu den Vorjahren weiter an, insgesamt wurden 5185 Straftaten zur Anzeige gebracht. Darunter hauptsächlich Diebstähle, Körperverletzungen und Drogendelikte. Unvermeidliche Kavaliersdelikte könnte man meinen. Doch neben Anwohnern berichten auch Medien zunehmend von Gewalttaten und der Schattenseite des Gürtels. Artikel zu Gewaltdelikten und Raserei mehren sich, hier ein paar brisanten Beispiele:
- Messerangriff am Gürtel: Fünf Festnahmen
- Ottakring: Mann am Wiener Gürtel mit Schraubenzieher attackiert
- Raser mit 91 km/h am Wiener Gürtel unterwegs
- Nacht des Schreckens: Gewalt eskaliert am Wiener Neubaugürtel
- Heftiger Streit endet mit beschädigten Autos und zwei Verletzten
Polizeipräsident Gerhard Pürstl erklärt, dass sich der Gürtel neben anderen Hotspots im Fokus der Polizeiarbeit befindet. Die Meinungen sind gespalten: Während einige Anwohner:innen und Besucher:innen den Gürtel als mehrheitlich angenehm empfinden und keinerlei Bedrohung wahrnehmen, fühlen sich Andere durch negative Erfahrungen zunehmend unsicher, darunter Petra S.
„Es war ein gewöhnlicher Freitag, ich war bei Freunden und bin allein mit der U6 nach Hause gefahren. Direkt als ich aus der Bahn aussteige, zerrt ein Typ an meiner Handtasche. Ich hab zum Glück festgehalten und ein aufmerksamer Passant hat sofort reagiert. Seitdem vermeide ich es, bei Nacht alleine die U6 zu nehmen.“
– Petra S. –
Als beliebte Ausgehmeile stellt der Gürtel einen Anziehungspunkt für ein breites Publikum dar – auch solche mit unliebsamen Absichten, sodass sich Vorfälle dieser Art immer wieder ereignen.
Wenn man vom Feiern am Gürtel spricht, ist damit vor allem der Streifen entlang der Stationen Thaliastraße über die Josefstädter Straße bis hin zur Alster Straße gemeint. Hier reiht sich Kneipe an Imbissbude, der Student plaudert mit dem Handwerker und Selbstbestimmung prallt auf Kontrollverlust.
Doch der Gürtel hat auch eine andere Seite. Südlich der Station Thaliastraße dünnen sich die Lokalitäten aus, Fahrspuren nehmen dort bis zu 86% der Fläche ein, die Lärmbelastung ist mit über 70 Dezibel für viele Anwohner unzumutbar hoch. Besonders die Gegenden des Urban-Loritz-Platzes, des Westbahnhofs sowie der Gumpendorfer Straße haben keinen guten Ruf – als Drogenumschlagplatz und Rückzugsort für Obdachlose werden sie betitelt. Auch nördlich der Thaliastraße ist die Lärmbelastung ein Problem. Doch eben wegen des dröhnenden Autoverkehrs tritt die laute Musik in den Hintergrund – und so entstand die Fortgehmeile in und um die Stadtbahnbögen, die vom Jugendstil geprägt sind.
Sie bilden nicht nur eine optische Barriere, sondern werden auch vom meist jungen Publikum divergent wahrgenommen.
Zwischen Stadtgrenze und Verkehrsdrehscheibe
Der Gürtel, wie man ihn heute kennt, wurde nach der Schließung des Linienwalls vom Architekten Otto Wagner als Wiener Stadtbahn konzipiert, die damals den Stadtrand bildete und heute teilweise noch als U6 und U4 besteht. Er entstand als funktionale Grenzlinie zwischen den äußeren Vorstadtbezirken und den inneren Stadtbezirken. Heute stellt er eine elementare städtische Verkehrsachse dar und gehört mit 13,1 Kilometern zu den längsten innerstädtischen Straßen Europas. Bis zu 80.000 Fahrzeuge sind täglich unterwegs, dazu kommen circa 230 Züge der U6, die täglich in beide Richtungen operieren.
Die Breite des Gürtels variiert stark und misst in manchen Abschnitten bis zu 50 Meter, da Gehwege und Grünstreifen die Fahrspur ergänzen. Auch engere Abschnitte kommen vor, wo sich die Bebauung dicht an den Gürtel anschmiegt. Prägendes Merkmal des Gürtels sind die 393 Stadtbahnbögen, die nicht nur Platz für Kulturstätte bieten, sondern auch wichtige Gestaltungselemente sind.
Veränderung in Sicht?
Obwohl die Stadt Wien seit Jahren eine Neugestaltung des Gürtels anstrebt, hat sich bisher wenig getan. Die Grünen haben bisweilen einen ambitionierten Plan überlegt. Mit dem Gürtel 2030 Projekt setzt man auf Reduktion der Fahrspuren, üppige Begrünung und eine Erweiterung der Gehsteige.
Die ÖVP plant mit einer Absenkung der Fahrspuren – eine Untertunnelung ist vorgesehen. Dabei soll oberirdisch eine 60.000 Quadratmeter große Grünanlage entstehen. Zeitgleich sollen alle drei Fahrspuren erhalten bleiben, eine Reduktion des Verkehrs komme für sie nicht in Frage.
„Die Pläne der Politik sind ja schön und gut. Aber ob ich das noch leibhaftig erleben darf, wage ich zu bezweifeln“
– Barkeeper Franky –
An Ambition mangelt es den beiden Gestaltungskonzepten jedenfalls nicht.
In Gürtelnähe leben rund 100.000 Menschen, sie haben einen ruhigeren und klimafreundlichen Gürtel verdient. Dabei gilt es, sich als Anwohner aktiv in die Gestaltungskonzepte einzubringen.
Stadtrat Karl Mahrer hat mit der Initiative „Gürtel Neu Denken“ eine Möglichkeit dazu ins Leben gerufen.
Bei der Neugestaltung sollte der Fokus auf den Problemzonen im südlichen Teil des Gürtels liegen.
Was berichten die Menschen vor Ort?

Anwohnerin Petra S. wohnt seit über zehn Jahren mit ihrem Partner direkt gegenüber der Station Josefstädter Straße. Obwohl sie sich insgesamt wohl fühlt, habe sich die Situation vor Ort in den letzten Jahren für sie verschlechtert. Sie berichtet von verbaler Nötigung, Übergriffigkeit und hat auch einen Diebstahl miterlebt. Die Lärmbelastung und der Verkehr machen ihr weniger aus, das sei sie schon gewöhnt. Zum Ausgehen meide sie fortan aber den Gürtel und beschränkt sich auf die inneren Bezirke.
© KI-generiertes Foto (DALL:E)
Student und DJ Andrew A. ist seit über zwei Jahren in Wien heimisch und spielt mit seinem DJ Kollektiv BassxBussi regelmäßig Events im Kramladen – eine beliebte Tanzbar. Er fühlt sich pudelwohl und hat außer kleinen Auseinandersetzungen noch nie etwas übergriffiges am Gürtel erlebt. Er mag das raue und ungeschminkte Flair, das ziehe ein breites Publikum an den Gürtel.
„Am Kramladen hat mir noch keiner ein Haar gekrümmt, da ist die Gefahr höher, dass einer nicht aufpasst und von einem heranbrausenden Auto erwischt wird.“

© Jonathan Kern

Dönerverkäufer Abdul C. arbeitet seit Jahren für die – wie er mit Augenzwinkern behauptet – beste Dönerbude am Gürtel. In den letzten Jahren nimmt er zunehmend Spannung und Respektlosigkeit wahr. Pöbeleien, Wortgefechte und Schlägereien gehören zur Tagesordnung. Einmal wurde er selbst zum Opfers eines Diebstahls. Trotz allem schätzt er aber die Lebhaftigkeit der Gegend.
„Der Gürtel braucht Abwechslung, wenn das so weiter geht, schlagen die sich bald alle die Köpfe ein.“
© Jonathan Kern
Barkeeper Franky ist eine Ikone in der urigen Chelsea-Kneipe, das neben Sportübertragungen auch Livemusik-Events veranstaltet. Er sieht die Problematik gelassener, das gehöre eben dazu in dieser Gegend. Was ihn bekümmert, ist die Bedrohung der Gentrifizierung, die mit einer Neugestaltung einherginge. Das treibe nur die Preise nach oben und Kneipen wie das Chelsea könnten sich dann nicht mehr halten. Man sehe es bereits im 15. und 16. Bezirk.
„A Ort, der no net aalglatt is und sei eig’ne G’sicht bewahrt hot.“

© Chelsea Musicplace | Othmar Bajlicz
Die Zukunft bleibt ungewiss
Der Gürtel steht vor einer Umgestaltung – wann dies angegangen wird, ist jedoch noch fraglich. Doch die Zukunft des Wiener Gürtels und seiner Bedeutung für das Nachtleben hängt von der Fähigkeit ab, eine Balance zwischen den unterschiedlichen Ansprüchen der Anrainer:innen, des Stadtverkehrs und der Besucher:innen zu finden. Die Neugestaltung bietet die Chance, den Gürtel nicht nur als Verkehrsader, sondern als lebendigen, vielfältigen und zukunftsfähigen Stadtraum neu zu erfinden.
„Der Gürtel ist ein Symbol für die Vielschichtigkeit Wiens,“ sagt Universitätsprofessor Martin Heintel. Und auch wenn eine Umgestaltung notwendig sei, müsse darauf geachtet werden, genau diese besondere Eigenschaft des Gürtels nicht zu gefährden.
Ob dieser Balanceakt in der Praxis gelingt, wird die Zukunft zeigen.
Die Autoren


© Magdalena Hronek